B. Kümin: Drinking Matters

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Titel
Drinking Matters. Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe


Autor(en)
Kümin, Beat
Erschienen
New York 2007: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 68,51
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sandro Liniger, Fachbereich für Geschichte und Soziologie, Frühe Neuzeit, Universität Konstanz

Mit der Hinwendung zum Raum in der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft ist eine Vielzahl neuer Studien entstanden, die vermehrt die gesellschaftliche Konstruktion des Raumes in den Blick rücken. Zu den Themen gehören ebenso vormoderne nachbarschaftliche Kontexte, Männer- und Frauenräume, öffentliche Orte wie Herbergen, Märkte oder Kirchen, aber auch Interaktionsgesellschaften wie der fürstliche Hof oder die frühneuzeitliche Stadt. Der Raum wird hier als Substrat symbolischer Praxis betrachtet, welche auf die Praxis zurückwirkt und Handlungs-, Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen präformiert. Die von Beat Kümin vorgelegte Studie zu frühneuzeitlichen Wirts- und Gasthäusern in Deutschland und der Eidgenossenschaft ist Teil des Bestrebens, den Raum als konstitutiven Faktor des historischen Zusammenhangs wieder stärker zu berücksichtigen und an einer prominenten Stelle in die Analyse einzuführen.

Beat Kümins Analyse des frühneuzeitlichen Mikrokosmos Wirtshaus verknüpft einzelne Fallgeschichten aus den Bezirken Dachau und Laupen mit den strukturellen Bedingungsgefügen der beiden entstehenden Territorialstaaten Bayern und Bern, um die Ergebnisse anschliessend im europäischen Kontext zu verorten. In seiner funktionalen Bestimmung von Wirtshäusern, Tavernen und Schenken als Knoten und Verdichtungspunkte frühneuzeitlicher Anwesenheitsgesellschaften wendet sich Kümin gegen die modernisierungstheoretischen Annahmen einer statischen und rückständigen Soziabilität. Dem entgegenhaltend beschreibt Beat Kümin Wirts- und Gasthäuser als dynamisches, in ständiger Aushandlung begriffenes soziales Gefüge, das zentrale Funktionen in der Konstitution moderner Staatlichkeit erfüllt und erst im Verlauf frühmoderner Differenzierungsprozesse seine zentrale Stellung im sozialen und ökonomischen Leben verliert.

Beat Kümin gelingt es in den ersten beiden Kapiteln, die einzelnen Elemente des Mikrokosmos Wirtshaus präzise herauszuarbeiten. Der Bestimmung verschiedener Typen von Trinkstätten folgt eine sozialstatistische Analyse über Verteilung und Häufigkeit von Wirtshäusern in Bayern und Bern. Im zweiten Kapitel macht Kümin den Leser mit den zentralen Akteuren frühneuzeitlicher Wirtshäuser bekannt: Die Gemengelage von Wirt, Gast und lokaler Obrigkeit macht das Wirtshaus zum dynamischen und umkämpften frühneuzeitlichen Schauplatz. In den folgenden zwei Kapiteln schafft es Kümin, die funktionale Rolle von Wirthäusern darzulegen – nicht nur für Wirte, Angestellte und ihre Familien, sondern auch als Verdichtungsraum frühmoderner Kommunikationsprozesse. Im frühmodernen Wirtshaus verschränken sich dabei Präsenz und Mündlichkeit mit dem Distanzmedium der Schrift: Einerseits als Schaubühne von Praktiken gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, als ein theatraler Raum, wo Unterscheidungen immer erst performativ hergestellt werden müssen, andererseits als Relais postalischer wie merkantiler Übertragungen, das immer auch Übersetzungen leisten muss. In diesem Gefüge sich überkreuzender Wege, sich vermischender Akteure und sich überlappender Kommunikationsprozesse kommt es folglich auch zu Zusammenstössen von Ordnungsmodellen, die den sozialen Raum des Wirtshauses zum dynamischen, aber auch umkämpften Ort frühneuzeitlicher Differenzierungsvorgänge machen; und nicht zuletzt zum privilegierten Anknüpfungspunkt frühneuzeitlicher Kontroll- und Sicherheitsdispositive.

Gerade in diesen beiden Kapiteln zeigt Kümins Studie Schwächen, werden doch verschiedene zentrale Felder angeschnitten, ohne sie an einem Punkt systematisch zusammenzufügen. In den immer wieder wiederholten Schlagworten der funktionalen Ambivalenz, der Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit von Wirtshäusern zeigt sich die Schwierigkeit, komplexe Räume wie das vormoderne Wirtshaus in einer weitgehend deskriptiv angelegten und über einen weiten geografischen wie zeitlichen Horizont verlaufenden Studie zu fassen. Besonders deutlich wird dies in den letzten beiden Kapiteln und dem Versuch, lokale Befunde mit den Formen frühneuzeitlicher gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und den Meta-Narrativen der Geschichtswissenschaft zu verknüpfen. Methodologische Schwierigkeiten zeigen sich bei der Verwendung des Diskursbegriffs, der weitgehend zusammenhangslos mit den in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen sozialen Praktiken dargelegt wird. Es ist zudem zu fragen, ob die auf einem durchaus normativen Modell beruhenden grossen Erzählungen nicht dadurch immer wieder eine Bestätigung finden, wenn umstrittene Konzepte wie das der politischen Öffentlichkeit bereits für die Frühe Neuzeit reklamiert werden bzw. vorgegebene Modelle wie «Sozialdisziplinierung» oder «Konfessionalisierung» einfach einem als komplex beschriebenen Mikrokosmos gegenübergestellt werden.

Kümins weit angelegte, reich illustrierte Studie bezieht seine Spannung aus einer Vielzahl von Einzelbeispielen und Fallgeschichten frühneuzeitlicher Wirtshäuser und Gaststätten und liefert einen wichtigen Beitrag zur Rehabilitierung eines lange Zeit vernachlässigten Sozialgefüges. Es ist Beat Kümins Verdienst, die Vielschichtigkeit und Wandelbarkeit frühneuzeitlicher Wirts- und Gasthäuser in Interaktion mit den zentralen Akteuren präzise herausgearbeitet zu haben. Genau an diesem Punkt liegen aber auch die Schwächen der Arbeit: Bezieht sich sein Raumverständnis auf eine realräumliche Ortschaft und damit auf einen weitgehend substanzialistischen Raumbegriff, so müsste klarer ersichtlich werden, wie aus der räumlichen Bedingtheit des Wirtshauses kulturelle Deutungsmuster hervorgehen, d.h. es müsste pointierter herausgeschält werden, wie über feste Konstellationen das Prozessuale überhaupt erst bedeutsam werden kann. Machen sich in der Studie Beat Kümins an einzelnen Stellen methodische Schwachpunkte bemerkbar, so überzeugt sie andererseits durch die genaue und umfangreiche Arbeit am historischen Material.

Zitierweise:
Sandro Liniger: Rezension zu: Kümin, Beat: Drinking Matters. Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe, New York, Palgrave Macmillan, 2007, 283 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 3, Bern 2009, S. 120ff.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 71, Nr. 3, Bern 2009, S. 120ff.

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